Gender Disappointment - was ich dazu loswerden muss
- Anna Bergmann
- 9. Mai
- 6 Min. Lesezeit
Wahrscheinlich bin ich in meinem Beruf als Juristin so leidenschaftlich unterwegs, weil es mir fern liegt, nur deswegen einzuknicken, weil jemand anders am lautesten schreit. Wenn ich an meine erfolgreichsten Fälle zurückdenke, dann waren das immer jene, die vielleicht von Beginn an einen schweren Stand hatten, aber bei denen es mir gelungen ist, den einen wichtigen Standpunkt so zu präsentieren, dass alle anderen Aspekte dem untergeordnet werden mussten, was am Ende das Gericht überzeugt hat.
Vor ein paar Tagen habe ich einen Reel mit dem Titel "Heul bitte bitte leise" gepostet, der sich an alle die Frauen richtet, die in den sozialen Medien ihr Gender Disappointment kund tun. Meist sind es Frauen, die nach einem Ultraschalltermin heulend im Auto sitzen und weinen, weil es schon wieder ein Junge oder halt eben kein Mädchen geworden ist. Darunter tummeln sich meist zu über 90 % bemitleidende Kommentare und alle Betroffenen tun sich gegenseitig leid. Deshalb möchte ich in diesem Artikel den häufigsten Kommentaren auf den Grund gehen und eines kann ich jetzt schon sagen: Egal wie viele Hater sich dazu noch melden werden, ich nehme es mit jedem gerne auf.
Warum triggern mich solche Posts so sehr?
Klar, es würde nahe liegen, dass ich als Betroffene von unerfülltem Kinderwunsch voreingenommen bin und es daher nachvollziehbar wäre, dass ich mir einfach ein Kind wünsche, egal welchen Geschlechts. Das stimmt sicherlich zu einem gewissen Teil. Dennoch habe ich mich gefragt, warum ich als eine der wenigen dazu eine so andere Meinung habe, denn irgendetwas in mir sträubt sich zu diesem Thema.
Wir sind in eine Gesellschaft verkommen, die nicht nur unter einem übermässigen Mitteilungsbedürfnis leidet, sondern die sich oft den Regeln unterwirft, dass er am lautesten schreit am meisten Aufmerksamkeit bekommt. Genau das ist hier das Problem. Wenn solche Reels viral gehen, könnte man aus den Zahlen ableiten, dass ganz viele Frauen dieses Thema spannend finden und dass es dadurch fast zur selbsterfüllenden Prophezeiung wird. Wenn man sich die Argumente dieser "Betroffenen" (ja, ich muss es in Anführungs- und Schlusszeichen setzen...) anschaut, dann kommen immer ähnliche Punkte wie dass man schon so viel Jungskleider hat oder dass man ein Mädchen halt toll frisieren oder einkleiden könne.
Es gibt keine juristische oder philosophische Moraltheorie, welche die Gender Disappointments gutheissen würde
Spätestens hier fallen mir jenseits des unerfüllten Kinderwunsches jegliche Gegenargumente ein, welche eine solche Sichtweise entkräften. In den sozialen Medien werfen mir Userinnen gerne vor, dass ich das einfach so sehen würde, aber da muss ich sie enttäuschen. Unsere gesellschaftlichen Moralvorstellungen haben sich über mehrere tausend Jahre etabliert, da spiele ich als Person keine Rolle und es geht auch nicht um meine Meinung, sondern mir geht es darum, diese Sichtweisen einzuordnen.
Angefangen bei der Natur würde ich als Philosophin argumentieren, dass die Natur keinen Unterschied zwischen Jungen und Mädchen macht. Wäre das Geschlecht in irgendeiner Form relevant, dann hätte die Natur den Prozess so eingerichtet, dass man das Geschlecht entweder gleich wählen könnte, oder dass man es ändern oder erfahren könnte. Dass wir letzeres können, ist allein der modernen Medizin geschuldet, aber ethisch nicht notwendig. Die soziokulturellen Prägungen des Stammhalters kamen erst viel später und sie kosten uns heute so viel Energie, um sie loszuwerden. In vielen Ländern der Welt werden Mädchen immer noch systematisch abgetrieben, weil in der Wahrnehmung der dortigen Gesellschaft Jungen mehr wert sind. Auch die Reproduktionsmedizin macht z.B. in den USA nicht davor Halt, dass man sich das Geschlecht aussuchen kann. Zum Glück sind wir in Europa juristisch so weit, dass zwischen den Geschlechtern kein Unterschied gemacht wird, sodass man kein Kind wegen seines Geschlechts abtreiben darf, oder dass Menschen wegen ihres Geschlechts weniger Rechte haben.
Woher kommen heutzutage solche Wünsche?
Wenn man so lange nicht Eltern werden kann, dann schärft man sicherlich sein Bewusstsein für das Elternsein an sich. Man opfert sehr viel und immer mehr für den Traum, das heisst man setzt sich besonders intensiv mit Elternschaft auseinander und bestätigt diesen Wunsch vielfach - und eben mehr als es die meisten Eltern tun. Wer ein Kind einfach gerne rosa anzieht, oder es praktisch findet, dass noch so viele Jungskleider im Schrank sind, hat sich meines Erachtens über die Elternschaft zu wenig Gedanken gemacht. Dieser satz mag provozieren, aber lasst uns da tiefer einsteigen. Ein Kind besteht doch nicht nur aus seinen Kleidern, aus der Instagram-Farbpalette oder aus Bequemlichkeiten des Alltags. Ebenso spielen Mädchen nicht zwangsläufig besser mit einer Schwester und umgekehrt - ein Kind ist doch so viel mehr als sein Geschlecht. Selbst wenn das Kind das Wunschgeschlecht hat, können sich bei der Erziehung und im Leben dieses Kindes auch ganz andere Herausforderungen stellen, welche die Zusammensetzung des Kleiderschranks um ein Vielfaches übersteigen. Dazu möchte ich einen krassen Vergleich machen, der es in sich hat:
Leute, die unter Gender Disappointment leiden und dies dem Verlust eines Kindes gleichstellen (warum sie dies tun - dazu später) müsstem im Falle der Totgeburt ihres Kindes eigentlich sagen: Hauptsache es war ein Mädchen.
Das klingt makaber, daneben, ja völlig unpassend? Im Folgenden werde ich erklären, warum es das ist. In den sozialen Medien wurde mir trotz klarem Disclaimer häufig vorgeworfen, ich würde die Gefühle der anderen Menschen negieren oder ihnen ihre Trauer absprechen. Das stimmt so nicht.
Ich glaube ihnen sogar, dass sie solche Gefühle verspüren, das will ich keineswegs bestreiten. Wir können unsere Gefühle nicht belügen. Aber die Tatsache, dass wir ein bestimmtes Gefühl verspüren, macht es noch lange nicht zu einem legitimen Gefühl. Nur weil ich sage, dass ich Gender Disappointment erlebe, macht es noch lange nicht zu einem moralisch gerechtfertigten Gefühl. Ist ein anderes Beispiel gefällig?
Nur weil ich gerne meinem Arbeitskollegen, Nachbarn oder Exmann den Hals umdrehen möchte, wird ein solcher Gedanke bzw. ein solches Vorgehen dazu noch lange nicht legitim. Genau das beanspruchen Gender Dissapointers aber für sich. Sie dürfen jedes Gefühl haben, das sie verspüren, aber es sollte sie dazu veranlassen, dieses einzuordnen.
In meiner eigenen Geschichte, aber auch in meiner Beratung habe ich jeden erdenklichen traurigen Fall gesehen. Fehlgeburten, Totgeburten - die ganz still verlaufen, oder auch Eltern, die sich vor lauter Kummer deshalb das Leben nehmen. Lasst uns noch einen Moment bei der stillen Geburt bleiben. Leute, die ihr Gender Disappointment in die Welt hinausposaunen verhalten sich lauter, als Betroffene von einer stillen Geburt. Dort, wo die Stille laut wird, weil sie so unerträglich ist, weil sie einen zerreisst, und trotzdem bleibt das kleine Baby still. Diese schiere Extremsituation ist so tragisch wie sie klingt und abertausend Mal schlimmer als ein Gender Disappointment, aber letzteres wird zu einem Lebensproblem aufgebauscht, das diesen Titel einfach nicht verdient hat.
Auch die hormonelle Umstellung in der Schwangerschaft ist für mich keine Ausrede, Gender Disappointment zu legitimieren, denn sonst könnten wir wegen allen hormonellen Schwankungen moralische Grenzen sprengen, das ging vor dem Zeitalter der sozialen Medien auch sehr gut ohne.
Worüber trauern Gender Dissapointment-Leute eigentlich?
Zu guter Letzt möchte ich noch auf das Argument der Trauer eingehen, was mir ebenfalls um die Ohren gehauen wurde. Ich würde den Betroffenen von Gender Disappointment ihre Trauer absprechen. Nein, auch das tue ich nicht, denn Trauer ist ein Fakt. Was ich aber kritisch sehe, ist dass man sich in diesem Fall so in eine Trauer hineinsteigert. Was trauern diese Menschen denn eigentlich nach? Nicht dem Kind, denn dieses lebt ja ausnahmsweise. Sie trauern einem Lebensentwurf nach, den sie vorher schon mit einem Jungen oder einem Mädchen gemacht haben. Dann kommt es anders und sie sind am Boden zerstört. Dass sie hierüber traurig sind, glaube ich sofort. Viel spannender ist aber die Frage, wie man zu einem so engstirnigen Lebensentwurf kommen kann?
Warum kann einen nur ein Mädchen glücklich machen? Wo ist man im bisherigen Leben schon so blockiert, dass es nur mit einem Jungen richtig weitergehen kann?
Schnell dreht man sich dann im Kreis und kommt auf die gute alte Klamottenfrage zurück, die an Oberflächlichkeit nicht zu überbieten ist. Hier sage ich ganz klar, dass solchen Menschen eine elementare Ehrfurcht vor dem Leben abgeht, denn ihre Lebensentwürfe beruhen auf Pinterest-Feeds, auf Bequemlichkeit und auf einer idealisierten Vorstellung vom Leben.
Man stelle sich zum Schluss bildlich folgendes vor, was etwa die Reaktionen in den sozialen Medien abbildet: Ein Kind wird still geboren. Es gibt keinen anderen Moment, in dem einem mehr die Worte fehlen können, als bei einer Fehl- oder Totgeburt. Dieses stille Ereignis wird aber übertönt vom Geheule der Gender Disappointment-Fraktion, deren Lebenstraum gerade zusammengebrochen ist und die auf das Mitleid der ganzen Welt angewiesen sind, weil ihr Leben sonst nicht weitergehen kann. An alle, die bis hierher noch unschlüssig waren: Wirkt diese Situation nicht grotesk?
Viel Meinung für wenig Ahnung
Eine Userin schrieb mir sogar, dass sicherlich auch nicht alle stille Geburten so schlimm seien, bzw. dass es bestimmt Menschen gäbe, die das gut wegstecken könnten. Damit wollte sie die Tragweite von Gender Disappointment und stillen Geburten auf das Geschmackloseste relativieren. Ich bin jetzt seit zehn Jahren in diesem Bereich unterwegs und bis heute habe ich noch keine Frau kennengelernt, die eine stille Geburt auch nur ansatzweise leicht fand.
Einen Gedanken des Gender Disappointments zu haben, ist kein Verbrechen, aber man sollte schnell die Kurve bekommen und sich über das heranwachsende Leben freuen. Wenn man das nicht kann, sollte man sich generell lieber nochmal Gedanken um die Elternschaft machen - nämlich so fundiert wie alljene, die nur in Gedanken Eltern sein können.
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