top of page

Routinen als Insel - die stille Macht für ganz schwere Tage

In jeder zweiten Frauenzeitschrift liest man heutzutage über Routinen, aber meistens wird das Thema nur an der Oberfläche touchiert und der wahre Kern davon wird weggelassen (wie auch, wenn die meisten Artikel solcher Blätter heute mit KI geschrieben werden).


Im unerfüllten Kinderwunsch können Routinen aber ganze Tage retten - sie brauchen jedoch ein anderes Fundament, als dies bei Menschen mit normalem Alltag der Fall ist.


Um den Effekt von Routinen zu erklären, machen wir erstmal einen Ausflug in ein ganz anderes Gebiet: Die Seefahrt. In meinem früheren Leben, als KiWu noch gar keine Rolle gespielt hat, war ich für acht Jahre auf einem Grosssegler auf den sieben Weltmeeren unterwegs. Dort wurde richtig angepackt, Segel von Hand gehisst, in die Masten geklettert und vieles mehr. Das erste, was ich gelernt habe, war aber nicht etwa ein Segelmanöver, sondern mein Bett zu machen. In strikter Hierarchie blieb oft wenig Raum für eigene Entscheidungen und alles was man tat, wurde kontrolliert. Auf den ersten Blick nervte das, aber es war für mich eine Schule des Lebens. Es gab einen Befehl und der wurde ausgeführt, dazu gehörte eben auch, morgens das Bett zu machen. Wer es nicht tat, erhielt einen Abzug vom Lohn (50 Dollar tun richtig weh!).

Der Grund dafür ist einfach: Es ging keineswegs um Hotel-Ästhetik, sondern um Sicherheit. Eine heruntergefallene Bettdecke kann im Notfall zur Falle werden, etwa wenn das Schiff sinkt, oder wenn man bei einem Brand keine Sicht mehr hat. Deshalb blieb gar kein Raum mehr, sich über diesen Befehl Gedanken zu machen. Die 50 Dollar musste ich mehrmals bezahlen, denn ich vergass anfangs immer wieder, mein Bett zu machen.


ree

Das Prinzip

Routinen müssen zwischen 60 und 90 Mal wiederholt werden, bis sie in Fleisch und Blut übergegangen sind. Auf dem Schiff wurde dies mit Zwang erreicht (Lohnabzug), aber das kann man auch viel einfacher und lockerer erreichen. Genauer gesagt sind sie ins Unterbewusstsein übergegangen und genau das wird in Bezug auf die Sicherheit trainiert. Piloten wiederholen schwierige Landungen so oft, bis sie sie blind ausführen können, das Schiffspersonal lernt, dass Notausgänge nie verstellt sein dürfen und beim Autofahren wissen wir irgendwann wie von selbst, wie man schaltet. Oder erinnerst du dich noch an jeden Gangwechsel von deiner letzten Fahrt? Die Idee dahinter ist, dass diese Handgriffe auch in absoluten Ausnahmesituationen funktionieren, nämlich dann, wenn unser Nervensystem auf den berühmten Tunnelblick verengt ist, weil es gerade im Überlebensmodus ist.


Was das mit unerfülltem Kinderwunsch zu tun hat

Unerfüllter Kinderwunsch ist eine psychische Ausnahmesituation. Diese Hürde ist nicht nur für besonders schwierige Momente wie negative Tests, Fehlgeburten oder abgebrochene Zyklen erfüllt. Die neuesten Studien zu diesem Thema belegen, dass unerfüllter Kinderwunsch eine dauernde psychische Belastung ist, die dem Verlust eines nächsten Angehörigen oder den Belastungen einer Krebsbehandlung gleichkommt.


Wo der Fehler passiert

So, wie Routinen in oberflächlichen Frauenzeitschriften verkauft werden, bewirken sie bei Betroffenen von unerfülltem Kinderwunsch oft das Gegenteil. Sie fühlen sich gezwungen, etwas zu tun, das ihnen gerade widerstrebt, bzw. die sinnlose Wiederholung wird als zusätzlicher Stress wahrgenommen - dann bringt es nichts. Sich in ausgesprochenen Stresssituationen noch mit unpassenden und sinnlosen Routinen einzudecken, kann nur im Desaster enden. Oder würde ein Laie in einem Gewitter anfangen, einen Airbus lenken zu lernen? Dass Routinen in sicherheitsrelevanten Berufen hierarchisch oder gar mit Strafen beigebracht werden, ist eine Variante (da manche dieser Routinen auch nicht schön sind), aber für den Kinderwunsch geht das auch anders.


So geht es richtig

Routinen helfen Betroffenen von unerfülltem Kinderwunsch dann, wenn sie in guten Phasen stabilisiert wurden, damit sie in schlechten Phasen ein Gerüst sein können, das einen trägt. Unerfüllter Kinderwunsch ist eine Thematik, die vor allem unser Urvertrauen in die Welt zerstört, weil wir es immer wieder mit Rückschlägen aus dem Abseits zu tun haben. Das Urvertrauen ist eine angelernte, tief verankerte Fähigkeit, die uns das nötige Vertrauen in den Alltag gibt. Würden wir jeden Tag damit rechnen, dass ein Flugzeug auf uns fällt, würden wir niemals vor die Tür gehen. Wir lernen aber durch Sozialisierung, dass an den meisten Tagen eben kein Flugzeug vom Himmel fällt und wir unserem Alltag normal nachgehen können. Diese Gefahr wird dann als abstrakt wahrgenommen und rückt in den Hintergrund. Urvertrauen dient also dazu, Gefahren richtig zu taxieren. Bei unerfülltem Kinderwunsch verwirklichen sich aber andauernd Szenarien, die wir vorher noch nicht einmal auf unserem Radar hatten, was dazu führt, dass das Urvertrauen erheblich ins Wanken kommt.


Für Betroffene von unerfülltem Kinderwunsch können etablierte Routinen ein Instrument sein, um gerade in Momente des zerstörten Urvertrauens wieder Boden unter den Füssen zu bekommen. Dieses Level ist erst erreicht, wenn man in dem betreffenden Moment eben gar nicht mehr darüber nachdenken muss, ob einem ein Spaziergang gerade guttut, sondern wenn man weiss, dass es das Einzige ist, was einem gerade guttut, weil man es in neutralen Situationen schon so oft erlebt hat, dass es funktioniert.


Anders als in den Frauenzeitschriften geht es nicht um eine kleine Auszeit im Alltag mit einer romantisierten Tasse Tee, sondern es geht darum, Überlebensmechanismen abrufen zu können, wenn sonst gerade nichts mehr geht. Die Art der Routinen können dabei dieselben sein. Wichtig ist aber, dass die Routinen zu einem passen, oder dass man sich vorstellen kann, dass das einmal dazu heranwachsen wird. Wenn ich Joggen immer schon abstossend gefunden habe, wird es mir vielleicht auch nach zehn Versuchen nicht gelingen, es toll zu finden. Dann kann es aber etwas anderes geben, was mir diesen Drive gibt, wenn ich schonmal den Gedanken habe, dass es Bewegung sein soll. Du musst deine eigenen Routinen finden.


Ich persönlich habe meinen ganzen Tag mit Routinen gespickt, die mich immer wieder zurück zu mir bringen. Die Optik ist dabei eben gerade nicht, dass ich auch noch X oder Y machen muss, sondern ich lasse stattdessen eher etwas anderes auf der Strecke, um meine Routine machen zu können, die mir in diesen Momenten Kraft gibt, statt Kraft raubt.


Einige Beispiele:

  • Ich spreche jeden Morgen ein kurzes Gebet, um bewusst im Tag anzukommen und in Dankbarkeit in den Tag zu starten. Dieser kleine Moment erdet mich und gibt mir auch an herausfordernden Tagen einen guten Impuls. Anders gesagt: Ohne Gebet würde der Tag in jedem Fall schlechter starten. Das kann auch ein schönes Gedicht oder ein Zitat sein - es geht nur um den Fokus in diesem Augenblick.

  • Da ich einen Hund habe, gehört der Abendspaziergang zum festen Tagesablauf, egal ob es schneit oder regnet. Gerade an stressigen Tagen ist er meine Brücke, um den Tag gehen zu lassen und in meinen Abend zu starten. An Tagen ohne Abendspaziergang schlafe ich bedeutend schlechter, deshalb gibt es für mich keine Ausnahme.

  • Meine Playliste für schwierige Tage ist auf der Kurzwahltaste. In Momenten des Zweifels oder der Orientierungslosigkeit habe ich eine feste Auswahl von Liedern (oft aus der Zeit der Seefahrt), die mich sofort in eine andere Stimmung versetzen.

  • Ich habe klare Werte und Prinzipien. Beispielsweise esse ich kein Fleisch und positioniere mich gegen Pelz. Indem ich mich mehrmals täglich über diese Prinzipien vergewissere (das kann nur ein Gedanke sein), verspüre ich ein tieferes Fundament meines Selbsts zur Welt. Auch wenn andere Fragen mich manchmal ins Wanken bringen, sind solche klaren Positionen ein zweites Standbein im Leben. Auch diese Prinzipien sind gewachsen und anhand vieler Entscheidungen zu dem geworden, was sie sind.


Praxistipps:

  • Überlege dir, was dir letzte Woche so richtig gut getan hat. Das kann alles sein, ein heisses Bad, ein Spaziergang an einem bestimmten Ort oder das Anhören eines tollen Songs.

  • Wiederhole diese Aktivität, wenn dir gerade danach ist. Hinterlässt sie wieder ein gutes Gefühl, versuche die Aktivität gezielt zu wiederholen - einfach soweit es möglich ist und für dich passt.

  • Erarbeite Routinen anfangs nur in Momenten, in denen es keinen Stress gibt. Mit der Zeit steigerst du die Wiederholung auch in Situationen, in denen du zu 50% Lust darauf hast.

  • Stelle dir anfangs einen täglichen Alarm, um die Routine nicht zu vergessen.

  • Probiere anfangs, die Routine eine Woche lang möglichst regelmässig zu machen. Jokertage sind völlig ok. Notiere am Ende der Woche, welches Gefühl du jeweils bei der Routine verspürt hast. Wenn du das nächste Mal zögerst, wirf einen Blick auf deine Notizen. Nicht jede Routine ist etwas für jeden Tag, langfristig sollte nur die Tendenz steigend sein.

  • Wenn du eine Routine nicht halten kannst und sie dich nicht erfüllt, tausche sie aus. Ein guter Zeitraum, um das zu prüfen, sind etwa zwei Wochen im normalen Alltag.

  • Wenn du in einen schwierigen Moment kommst, rufe die bereits bekannte Routine dann ab und spüre nach, wie du damit aus dem Moment (ein wenig) herausgekommen bist. Schreibe auch das auf.

  • So wird sich die Routine nach und nach festigen. Es geht nicht darum, sie lückenlos und ohne Wenn und Aber auszuführen, sondern einfach langsam ein Netz daraus zu weben, dass dich eben auch trägt, wenn du mal fällst.


Im Unterschied zu Routinen als gute Vorsätze haben sie hier die Aufgabe, ein Auffangnetz für schwierige Tage zu weben. Wenn unser Urvertrauen mal wieder erschüttert wird, sind gefestigte Routinen genau jene Struktur, die uns Stabilität gibt, wo sonst gerade keine ist. Sie holen uns wieder ins Vertrauen zurück, weil sie funktionieren, auch wenn es uns gerade schlecht geht und wir uns nicht darauf konzentrieren können.


Wie lange es dauert, bis eine Routine in der Tiefe etabliert ist, ist erstmal egal und kann auch variieren. Wichtig ist nur, dass du die Augen öffnest und Potenzial erkennst, wo eine Aktivität dir guttut.


 
 
 

Kommentare


Du möchtest keinen neuen Post verpassen?

Super! Gleich musst du kurz deine Mailadresse bestätigen, dann bist du auf dem Laufenden!

bottom of page