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Loslassen

Sicher bist du auch schon über den Begriff "Loslassen" gestolpert, weil dir das vielleicht geraten wurde, oder weil du selbst daran gedacht hast. Aber was heisst das eigentlich genau? Ist das ein gutes oder eher schwieriges Konzept?


Loslassen wird in den unterschiedlichsten Situationen empfohlen, sei es das Loslassen eines schwierigen Gedankens, einer schlechten Erfahrung oder eines Ereignisses. Ganz so einfach ist die Umsetzung aber nicht, wie ich in diesem Beitrag zeigen möchte.


Generell finde ich Loslassen dann ein gutes Konzept, wenn man in Bezug auf eine Frage eine neue Sicherheit gewonnen hat. Man darf eine frühere, schwere Zeit gehen lassen und abschliessen, weil man es jetzt besser weiss und anders aufgestellt ist. Dies ist eng mit Vergebung verknüpft, weil man jetzt vielleicht an einem Punkt viel weiter ist und nachvollziehen kann, warum man früher etwas gedacht hat oder so gehandelt hat, wie man gehandelt hat. Man darf im Leben weitergehen und zu neuen Ufern aufbrechen.


Eher schwierig finde ich das Konzept des Loslassens, wenn einem damit eine verkrampfte Haltung zu etwas angedichtet wird. Wer hier schon länger am Start ist, kennt meine dezidierte Meinung zu Blockaden, aber es gibt auch viele ähnliche Bereiche. Wenn man jemandem rät, etwas loszulassen, dann deutet man damit oft an dass derjenige sich verkrampft oder aus irgendeinem Grund doch noch daran festhalten will.


Hier möchte ich im Besonderen auf das Ereignis einer Fehlgeburt eingehen. In diesem Zusammenhang finde ich Loslassen überhaupt nicht hilfreich, denn viele Betroffene verspüren bei diesem Empfehlung, die Angst, ihr Sternenkind für immer loslassen zu müssen (auch wenn es längst gegangen ist). Loslassen beinhaltet oft eine Bevormundung, ob jemand ein Ereignis, einen Gedanken oder eine Prägung noch weiter haben darf. Für Betroffene fühlt es sich an, als würde man ihnen die letzte Faser nun auch noch wegnehmen, einfach weil es Zeit ist.


Von einer Fehlgeburt bleibt einem ohnehin meist nur ein Ultraschallbild. Dann aber zu sagen, man soll das Erlebnis loslassen, fühlt sich für Betroffene oft auch Jahre danach falsch an. Warum darf man nicht daran festhalten? Loslassen heisst oft auch verdrängen oder ungeschehen machen, so weiterleben, als wäre es nicht passiert.


Warum muss ich ein Erlebnis überhaupt loslassen? Ich darf es doch auch in mein Leben, in meine Persönlichkeit und in meinen Werdegang integrieren. Als rationaler Mensch weiss ich, dass es schon vorbei ist und materiell wahrscheinlich nicht mehr existiert, aber muss ich es deswegen loslassen?


Was ich stattdessen gemacht habe

Gerade bei Fehlgeburten gefällt mir der Ansatz viel besser, dass man sie erst recht verewigt. Eben weil man nichts als das Ultraschallbild hat, finde ich es viel schöner, auch ein Sternenkind dauerhaft in seinen Alltag zu integrieren. Das muss keineswegs heissen, dass man sich jeden Tag im Detail damit befasst. Wenn man aber einerseits verstanden hat, dass es nicht wieder kommt, aber andererseits den Raum geben kann, dass es doch noch da sein darf, ist das eine viel friedlichere Auseinandersetzung damit, als wenn einem ständig alle sagen, man soll doch endlich loslassen.


Indem ich eben nicht losgelassen habe, sondern meine Sternenkinder jeden Freitagabend in mein Gebet einschliesse, indem ich jedes von ihnen als Tattoo immer bei mir trage, habe ich einen viel friedlicheren und nachhaltigeren Umgang damit gefunden. Ich habe sofort verstanden, dass sie niemals wiederkommen, aber in die Ewigkeit übergegangen zu sein, heisst auch, dass sie trotzdem nie gehen werden. Sie werden immer ein Teil von mir sein und das erfüllt mich mit tiefer Dankbarkeit und innerem Frieden. Loslassen baut meiner Meinung nach nur unnötigen Druck auf, wenn man damit versucht, prägende Erlebnisse aus dem Gedächtnis zu löschen und der Vorwurf damit einhergeht, die betroffene Person würde sich irgendwie nicht gemäss der Erwartung verhalten. Wir können uns nicht selbst belügen.


Trauer hat verschiedene Phasen und loszulassen bedeutet oft ein zusätzlicher Abschied (von was eigentlich?), der nicht selten von aussen aufgedrückt wird: Lass doch endlich los, es ist Zeit loszulassen usw. Mit diesem Beitrag wollte ich dieses nutzlose Konzept etwas relativieren, denn wer sagt, wann denn genug losgelassen ist? Kann man das messen?


Loslassen impliziert auch, dass es eine Art Skala gibt, ab wann man genug losgelassen hat. Aber ein Abschied ist immer eine Erfahrung, die sich in Etappen vollzieht und manche Trauerphasen können von Mensch zu Mensch ganz unterschiedlich lange dauern. Loslassen zu müssen heisst nichts anderes, als dass manche dieser Phasen schneller durchlaufen werden sollen, als es die Person vielleicht gerade braucht. Hier gibt es keine allgemeingültigen Spielregeln.

Ich bin der festen Überzeugung, dass sich loslassen immer künstlich anfühlt. Wenn wir ein Ereignis verarbeitet haben und zwar in unserem Tempo, kommt automatisch eine Phase, in der wir uns davon ein wenig distanzieren konnten, einen gesunden Abstand nehmen konnten. Diese Verarbeitung ist aber individuell. Indem wir vielleicht sogar aktiv die Tür öffnen, um das Ereignis nicht kleinzureden, sondern auch in die Zukunft mit aufzunehmen, kann vielleicht sogar viel schneller eine Akzeptanz kommen, als wenn wir gezwungen werden, irgendetwas Undefinierbares loszulassen.


Was hältst du vom Konzept des Loslassens?


 
 
 

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