Visualisierungen im Kinderwunsch: Risiken und Nebenwirkungen
- Anna Bergmann
- 27. Juni
- 6 Min. Lesezeit
Einst habe ich versucht, sie zu perfektionieren - heute bin ich ihre schärfste Kritikerin: Die Rede ist von Visualisierungen.
Unter Visualisieren versteht man das Vorstellen einer Situation, die es so (noch) nicht gibt. Unser Gehirn kann nur schwer zwischen Realität und Vorstellung unterscheiden, was man sehr deutlich merkt, wenn man bei einem traurigen Film weinen muss. Obwohl wir wissen, dass die Geschichte nur erfunden ist, ruft sie bei uns so echte Gefühle hervor, dass wir sie exakt nachfühlen können. Die Bilder der Geschichte haben uns so tief erreicht, dass wir die Geschichte real erleben.
Die Absicht von Visualisierungen ist es, Situationen möglichst echt zu antizipieren und durch eine ständige Wiederholung im Unterbewusstsein so abzulegen, dass sie sich irgendwann real anfühlen und wir damit vertraut werden.
Ein anderes Wort für Visualisierung ist Auto-Suggestion. Im Unterschied zum Manifestieren, was schwerpunktmässig auch das Aufsagen von Leitsätzen zum Inhalt hat, kann das Visualisieren auch ganze Abläufe beinhalten. Die Grenzen zwischen diesen Begriffen sind aber fliessend.
Ich bin ein riesiger Fan von diesem Prinzip - ausser im Kinderwunsch.
Visualisieren habe ich selbst schon oft erfolgreich in meinem Leben angewendet, sei es im Sport oder zum Beispiel für die Vorbereitung einer Prüfung. Als ich zur See gefahren bin, wurde ich für verschiedene Krisensituationen trainiert. Dort mussten wir teilweise üben, solche Notfallsituationen im Geiste immer wieder durchzugehen, bis wir sie "aus dem FF" beherrschten. Ich bin überzeugt, dass solche tief im Unterbewusstsein abgelegten Abläufe im Extremfall Leben retten können, wenn man nicht mehr in der Lage ist, klar zu denken aber aus dem Tiefschlaf eine bestimmte Handlung abrufen muss. Auch im Sport kann Visualisieren helfen, einen theoretisch bereits bekannten Bewegungsablauf immer weiter zu perfektionieren, indem man ihn mit der Kraft der Vorstellung in der Realität immer weiter daran angleichen kann.
Die Visualisierung einer Situation hat drei Vorteile:
Durch die mentale Vorbereitung wird überhaupt erst Vertrauen mit der Situation hergestellt. Dadurch kann später echtes Verhalten begünstigt werden.
Visualisieren gibt eine Struktur vor, sodass Angst und Chaos reduziert werden. Mental abgelegte Abläufe werden geordnet und wiederholt.
Das Ziel wird mit maximaler Genauigkeit und Fokus angepeilt, indem auch Details der Visualisierung immer weiter ausgeschmückt werden können.
Das wäre doch auch für den Kinderwunsch super, oder?
Leider nicht. Es gibt unzählige Angebote (und ich habe sie auch probiert), die einem bei unerfülltem Kinderwunsch dazu raten, dass man sich zum Beispiel den kugelrunden Bauch vorstellt, wie er sich anfühlt, wie man einen Tritt darin spüren kann und so weiter. Andere Beispiele wären, sich den Moment des Schwangerschaftstests vorzustellen oder einen Ultraschalltermin. Dies birgt aber gleich mehrere Fallstricke, die am Ende in diesem Fall nur negative Folgen haben können.
Erstens suggeriert Visualisieren in diesem Kontext, dass man alles beeinflussen kann, wenn man nur stark genug visualisiert. Die Methode ist aber für Einsatzgebiete gedacht, die durch eine beeinflussbare Leistung bearbeitet werden können.
Bei unerfülltem Kinderwunsch handelt es sich um medizinische und biologische Faktoren, die für Menschen unkontrollierbar sind. Im Kinderwunsch kann keiner der entscheidenden Faktoren beeinflusst werden. Wenn Visualisieren in diesem Kontext angewendet wird und der Erfolg nicht eintritt, sind Selbstzweifel in der Art von "Ich habe es nicht gut genug visualisiert" vorprogrammiert, dicht gefolgt von Schuldgefühlen: "Ich bin schuld, dass es immer noch nicht geklappt hat, weil ich nicht oft genug visualisiert habe!". Deshalb distanziere ich mich von solchen Praktiken, weil sie meiner Meinung nach fahrlässig angewendet werden.
Zweitens steigern solche unnötigen Visualisierungen die emotionale Fallhöhe. Je mehr man visualisiert und seiner Sache sicherer wird, desto grösser ist die Enttäuschung - hier namentlich das Ende einer Täuschung - wenn es dann wider Erwarten doch nicht funktioniert. Die Enttäuschung trifft die Realität und das innere Idealbild gleichermassen. Die emotionale Energie (und das emotionale Wohlbefinden) werden an ein Ergebnis gekoppelt, das du nicht beeinflussen kannst. Dadurch werden emotionale Ressourcen verschwendet, die du anderswo besser gebrauchen könntest.
Drittens wird durch Visualisieren die Akzeptanz sabotiert. Ist der Moment der Enttäuschung einmal gekommen, gibt es unterschiedliche Formen, damit umzugehen. Bei manchen Betroffenen entsteht Wut, Trauer, Schmerz oder eine Mischung aus allem. Diese Gefühle sind wichtig, weil sie einen Verarbeitungsprozess anstossen. Sie sind natürliche Signale unseres Körpers, die uns helfen, mit der Situation klarzukommen. Auch wenn der Schock am Anfang tief sitzt; ab einem gewissen Moment muss man der Realität ins Auge sehen und die Situation akzeptieren. Akzeptanz ist der erste Schritt, das vergangene Kapitel abschliessen zu können, um sich entweder in eine Zwischenphase oder zu einem Neustart bewegen zu können. Es muss ja irgendwie weitergehen. Mit unnötigen und unrealistischen Visualisierungen versperrt man sich selbst den Weg der Akzeptanz, weil dadurch eine gewisse Ungläubigkeit erschaffen wird, sodass man letztlich an sich selbst zweifelt.
Zu guter Letzt schiebt Visualisieren in diesem Kontext die Verantwortung auf die Betroffenen. Strukturelle, systemische oder medizinische Realitäten werden ignoriert. Auch wenn Visualisieren nur als zusätzliche Methode empfohlen wird und man die Diagnosen kennt und besprochen hat, erzeugt es bei Betroffenen trotzdem die genau gleiche Hoffnung, wie wenn man erstere komplett ausblenden würde.
Betroffene denken immer zumindest teilweise, dass es ja doch etwas helfen könnte, dass sie es ja doch einmal probieren könnten.
Realistisch gesprochen gehören zum unerfüllten Kinderwunsch auch Momente des Kontrollverlustes, Achterbahnen der Gefühle, Unerwartetes usw.
Wie sieht es aus mit wissenschaftlichen Belegen?
Es gibt sehr viele wissenschaftliche Belege, welche die Wirksamkeit von Visualisieren bestätigen. Wie so oft muss man aber Statistiken mit der nötigen Präzision beurteilen, was leider die meisten selbsternannten "Coaches" in diesem Bereich nicht zu tun scheinen. Der überwiegende Teil dieser Studien bezieht sich auf die Sportpsychologie, wo Leistungen letztlich physisch erreicht werden müssen, solange sie im Rahmen des Möglichen liegen. Es gibt jedoch keine Studien dazu, die eine Wirksamkeit von Visualisierungen in der Reproduktionsmedizin bestätigen. Ergebnisse gibt es nur dort, wo die Probanden auch eine realistische Möglichkeit haben, das Ergebnis zu beeinflussen. Dies möchte ich an einem Beispiel verdeutlichen:
Wenn ich ein bereits trainierter Marathonläufer bin, dann kann mir die Visualisierung zum Beispiel helfen, schwierige Abschnitte des Marathons besser zu strukturieren und meine Schwächen zu überbrücken. Nichtsdestotrotz muss ich grundsätzlich in der Lage (oder zumindest in der Nähe davon) sein, einen Marathon überhaupt zu laufen. Dieses Ergebnis belegen die Studien.
Sie belegen aber nicht, dass eine völlig untrainierte Person wie ich, die noch ein paar Kilos zu viel auf den Rippen hat, allein durch die Kraft der Visualisierung einen Marathon laufen kann. Genau das wird aber im Kinderwunsch sehr oft suggeriert und das ist nichts als manipulativ.
Wo Visualisierung helfen könnte - wo ich aber bessere Optionen nutze
Es gibt durchaus Einsatzgebiete, wo Visualisierungen helfen können. Konkret denke ich an das Durchgehen von medizinischen Untersuchungen, die unangenehm sein können, oder an das Visualisieren von Momenten, die als Meilensteine gelten, aber direkt mit dem Kinderwunsch nichts zu tun haben, z.B. wenn ich mir ein schönes Abendessen am Abend nach der Follikelpunktion vorstelle, weil es mir erleichtert, diesen Tag hinter mich zu bringen.
Trotzdem nutze ich diese Methode in meinem Coaching auch in angepassten Situationen nicht, weil ich überzeugt bin, dass es bessere und realitätsnähere Strategien gibt.
Aus meiner über zehnjährigen Erfahrung vor Gericht weiss ich, dass man einen Prozess nicht mit "positiv denken" gewinnt, sondern mit einer knallharten Vorbereitung. Oftmals ist es sogar so, dass nicht derjenige den Prozess gewinnt, der nach dem gesunden Menschenverstand Recht hat, sondern derjenige, der seine Argumente besser darlegen kann. Das muss nun bei weitem nicht heissen, dass immer die Falschen gewinnen, denn oft geht es gar nicht um richtig oder falsch bzw. gut oder böse, sondern einfach um zwei gegenteilige Standpunkte, wobei sich das Gericht zugunsten von einem davon entscheiden muss. Damit mein Mandant derjenige ist, der seinen Standpunkt überzeugender vertreten kann, reicht es also nicht, wenn ich ihm einfach sage, er solle dich positiv denken oder sich visualisieren, wie er ein Urteil zu seinen Gunsten bekommt.
Stattdessen packe ich die Situation einfach in der Praxis an: Was kann er denn konkret sagen, um seinen Standpunkt zu erhärten? Welche Beweise bzw. Werkzeuge haben wir, welche nicht? Wie kann ich diese so zusammensetzen, dass sie einen Sinn ergeben, einen roten Faden?
Was dann kommt, klingt banal, aber es hat mir schon hunderte Prozesse gerettet: Wir machen es einfach!
Wir spielen Konversationen durch, prüfen Argumente vor und zurück, bis wir selbst von ihnen überzeugt sind und genau das mache ich auch mit meinen KiWu-Patientinnen. Sie müssen sich nicht visualisieren, wie sie entspannt ins Büro kommen und wie sie der Bauch der Kollegin nicht stressen wird. Wir sprechen keine Mantras, dass der Chef dem nächsten Urlaubsantrag zustimmen wird, weil da die IVF stattfinden soll.
Wir regeln die Situation gleich in der Praxis, indem die Kundin eine Strategie bekommt, wie sie mit der schwangeren Kollegin umgehen soll - sei das eine mentale oder eine praktische Strategie. Beim Urlaubsantrag vertrauen wir nicht auf ein Wunder, sondern schöpfen reale Möglichkeiten aus, um ihn bewilligt zu bekommen. Klinikgespräche werden zuvor strategisch geplant und strukturiert, damit man sie einfach nur noch durchführen muss. Und wenn es nicht klappt, wenn das Gespräch schief geht? Dann habe ich eine neue Situation, in der ich wieder aktiv etwas tun kann, weil ich es in der Hand habe - nicht weil ich durch ein diffuses Wunschdenken geblendet worden bin.
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