Warum mein Sohn mit diesem Auto nicht spielen darf - oder wie tief unerfüllter Kinderwunsch wirklich geht
- Anna Bergmann

- 8. Aug.
- 6 Min. Lesezeit
Wie sehr sich die Aussen- und die Innenwelt manchmal unterscheiden können, möchte ich in diesem Beitrag näher darstellen. Ich sitze hier und fange an zu schreiben, ohne dass ich weiss, ob es ein lustiger, ein trauriger, oder ein nachdenklicher Beitrag werden wird - fast genau wie beim unerfüllten Kinderwunsch - wo man eben nie weiss, wie es weitergeht.
In meinem Büro steht das Automodell auf dem Foto oben auf meinem Schreibtisch.
100% meiner Klienten denken wahrscheinlich bei diesem Anblick: Was für eine verwöhnte SUV-Tussi.
Warum ich damit leben kann, erfährst du gleich, denn dahinter steckt eine lange Geschichte.
Die Masterfrage für heute lautet: Was hat ein Auto mit unerfülltem Kinderwunsch zu tun?
Neulich musste mein Auto zum TÜV, der hier in der Schweiz besonders berüchtigt ist und in meiner Heimatstadt weit über die Kantonsgrenzen hinaus als schlimmste Motorfahrzeugkontrolle der Schweiz bekannt ist. Das Resultat war: Mein Auto fiel wegen einigen nicht nachweisbaren Mängeln durch und ich musste es verschrotten lassen. Wirtschaftlicher Totalschaden. Ein Großteil der festgestellten Mängel konnten nachher von zwei KFZ-Meistern nicht entdeckt werden - aber so läuft es halt. Als ich das Auto verschrotten musste, wurde ich plötzlich total sentimental. Ernsthaft - wegen einem Auto?
Dann lief in meinem Kopf ein Film ab und dann wurde mir klar, warum ich so reagierte. In den ersten Jahren meines Kinderwunsches lebte ich mit meinem Partner unter dem Existenzminimum. Trotz zwei guten Löhnen berappten wir alle zwei Monate CHF 10’000.— (rund € 10’000) für eine künstliche Befruchtung nach der anderen, inkl. Medikamente, Hotelkosten, Reise, Voruntersuchungen usw. In der Schweiz gehört man diesfalls zu den glücklichen Patienten, die alles selber zahlen müssen (Ironie off), und dies auch noch versteuern dürfen.
In die Fresse. Doppelt. Immer wieder.
Nach aussen konnten sich viele Leute in meinem Umfeld nicht erklären, warum ich lange überhaupt kein Auto fuhr. Ich besass eines, aber ich hatte es aus Kostengründen abgemeldet. Wäre es plötzlich kaputt gegangen, hätte ich nicht mal das Geld übrig gehabt, um den Abschleppdienst zu bezahlen.
So tief war ich gesunken.
Jeden Morgen stand ich auf, ging zu Fuss zur Arbeit und brauchte abends viel länger zurück mit dem Bus, weil ich für ein Auto gerade kein Geld hatte. Ich arbeitete in einem Büro mit Hochglanzeinrichtung, durfte meine Wandbilder selbst wählen (wen interessiert sowas...) und so viele Laptops oder Geräte bestellen wie ich wollte, aber all das war nur meine Fassade. Ich arbeitete dort wie in einem fremden Körper, in einem anderen Leben. Ich fühlte mich entwürdigt, als Verliererin, die so verzweifelt mit anderen - aber vor allem mit sich selbst - mithalten will, es aber nicht kann.
Dabei ging es mir nicht um Statussymbole an sich, obwohl diese in Juristenkreisen nicht gerade selten sind. Der erste Porsche mit 30 ist ein Meilenstein. Eine Standardfrage auf Parties ist: Na, wann hast du deine erste Million als Kanzleipartner im Trockenen? Ich hatte all die Jahre hart gearbeitet, um überhaupt mein Studium zu bestehen, habe hart gearbeitet um auch ohne Beziehungen gute Jobs zu bekommen, habe mich angestrengt, um weiterzukommen.
Und dann? Ich konnte mir nicht mal irgendein Auto leisten, sass abends weinend auf dem Küchenboden, weil die Waschmaschine kaputt war und ich deshalb die nächste IVF wieder um einen Monat verschieben musste. Wozu also das alles? Es machte mich unendlich traurig und jeden Tag spürte ich mehr, wie ich mich innerlich von meinen Freunden entfernte und welchen Preis ich dafür bezahlte. Sie unterhielten sich darüber, in welcher Farbe sie das gleiche Auto noch kaufen wollten - und ich? Es ging mir nicht darum, Artikel XY zu besitzen, sondern sich einfach mal etwas gönnen zu dürfen. Ich wusste, dass ich es verdient hätte, dass ich einfach gern ruhig schlafen wollte.
Eines Tages konnte ich nicht mehr.
Ich legte eine längere Pause ein zwischen den Behandlungen und kaufte mir aus Trotz ein richtig teures Auto. Scheiss drauf, dachte ich, ich werde ja sowieso nicht schwanger. Nur durch Zufall hätte es theoretisch für einen Kinderwagen Platz gehabt.
Als ich das erste Mal im Fahrersitz sass, weinte ich. All die Jahre hatte ich mich selbst so vernachlässigt, mehr gegeben, als ich konnte. Jede Zeitschrift, mit der ich geliebäugelt hatte, liess ich im Regal für meinen Traum. Dieses eine Mal aber war das Fass übergelaufen. In dieser Sekunde merkte ich, dass ich mich wenigstens in diesem Moment ein kleines Bisschen wieder lieb hatte, weil ich mir selbst - und nur mir selbst - eine Freude gemacht hatte. Wenn ich schon nicht schwanger werden konnte, dann hatte ich nun wenigstens Spass am Autofahren.
Das Auto wurde nicht nur zu meinem Rückzugs- sondern auch zu meinem Kraftort. Wie oft sass ich in diesem Auto nach einem Arzttermin und schrie mir die Seele aus dem Leib. Ich erinnere mich an viele Momente, in denen ich weinend im Parkhaus sass und mich erstmal wieder sammeln musste. Ich griff manchmal krampfhaft ans Lenkrad und werde die Haptik nie vergessen. Wenn ich nicht wusste, wohin mit meinen Gedanken, dann fuhr ich eine Runde Auto. Ohne Rast und ohne Ziel. Ich liebte die exklusive Musikanlage, denn Musik kommt ja bekanntlich an Stellen in der Seele, wo nichts anderes hinkommt. Im Auto konnte ich endlich ich selbst sein, schreien, weinen so viel ich wollte.
Auch in einer guten Partnerschaft braucht man Momente, in denen man sich ganz zurückziehen kann und das ging in der Wohnung trotz allem nicht. Wenn man mit so dünnen Wänden schon jeden Nachbarn unfreiwillig beim Klogang hören muss, fühlte ich mich nur im Auto wirklich frei.
Als ich meinen Sohn und seinen Zwilling schliesslich „abholen“ durfte und gerade wenige Stunden im Bauch hatte, schneite es zuhause in der Schweiz richtig stark. Ich erinnere mich noch, dass mich mein Vater am Flughafen abholte - mit meinem Auto mit Allrad. Natürlich wusste ich noch nichts von der Schwangerschaft, aber ich fühlte mich in dem starken Geländewagen so sicher wie in einem Panzer. Auch während der folgenden, nicht ganz einfachen Schwangerschaft war das Auto immer der Ort, der quasi mitgefahren ist. Ich sass darin zu und nach jedem Arzttermin, darin wurden die ersten Babysachen transportiert, damit haben sie mich am Zoll herausgefischt mit dem neuen Babybett im Kofferraum (alles legal natürlich…) und von A bis Z hochgenommen.
Nach der Geburt musste mein Sohn knapp drei Monate im Krankenhaus bleiben. Jeden Tag fuhr ich mindestens zwei Mal zu ihm - mit dem Auto. Wie oft bin ich in dieses Parkhaus im Unispital gefahren, dabei war mein Auto immer mein sicherer Hafen, wenn ich nach dem schweren Abschied wieder eingestiegen bin. Es hat immer auf mich gewartet.
Der krönende Moment kam dann, als ich meinen Sohn mit diesem Auto das erste Mal nach Hause nehmen durfte.
Er wog noch keine zwei Kilo und war trotz der beiden Zusatzeinsätze winzig klein in dem Maxicosi und wir fuhren wie auf rohen Eiern. Das Auto brachte uns sicher nach Hause.
Als ich das erste Mal allein mit ihm fuhr, war ich so nervös, dass ich die ganze Zeit mit ihm redete, obwohl er natürlich noch nichts sagen konnte. Es folgten viele hundert Fahrten, bei denen der Kinderwagen ein- und ausgeladen wurde. Für andere ist ein Familienauto ein Gebrauchsgegenstand, für mich war es der sichere Hafen, worauf ich so viele Jahre gewartet hatte.
Ja, und dann kam der Tag, an dem mein Auto die Diagnose Totalschaden bekam. Als ich alle diese Gedanken Revue passieren liess, wurde mir klar, welche Emotionen all die Jahre mit mir mitgefahren waren, sich dort drin entladen haben und wie ich selbst darin wieder habe aufladen können.
Heute weiss ich, dass ich mir dieses Auto schon viel früher hätte gönnen sollen. Einfach weil es mir gut getan hätte. Heute weiss ich auch, dass es mir total egal ist, was andere denken. Sollen sie denken es war ein Statussymbol, aber die innere Bedeutung kennen sie nicht. Was wirklich zählt ist doch nur, dass es für mich eine Oase war, die mich vor Schlimmerem bewahrt hat: Aufzugeben. Vielleicht hat es genau diese Pause, diese kleine Entlastung, dieses „sich natürlich nur fast aber immerhin ein bisschen wie auf ein Baby freuen“ gebraucht, um einmal durchatmen zu können.
Alles, was mir davon geblieben ist, ist dieses Modell auf meinem Schreibtisch. Obwohl ich meinen Sohn über alles liebe - damit darf er nicht spielen. Es hat für mich einen unbezahlbaren symbolischen Wert. Der lange Kinderwunsch hat mich nicht nur in Bezug auf das Auto gelehrt: Es ist mir (sch***)egal, was andere Leute von mir denken. Ich bin meinen Weg gegangen und ich bin am Ziel angekommen, mit allen Werkzeugen, Umwegen und Talsohlen, die es gebraucht hat. Mein Auto ist ein grosses Stück dieses Weges mit mir gefahren. Das ist alles, was zählt und ich weine beinahe schon wieder...
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